Ode an die Langsamkeit

Von der Farce des ständigen Mehr.

Vielleicht geht es euch auch so – manchmal geht es mir einfach auf den Keks, in welcher schnelllebigen Zeit wir unser Dasein verbringen. Tagtäglich werden wir von allen Seiten mit Tausenden von Botschaften bombardiert. Und das erklärte gemeinsame Ziel dieser Botschaften scheint es zu sein, uns zu optimieren, das Maximum aus uns herauszupressen, und uns zum immer währenden Wachstum anzutreiben. Das Ziel ist immer mehr, und dann noch mehr. Und das doch bitte in der möglich geringsten Zeit.

Nicht genug

Jeder will etwas von uns, und von überall her wird uns suggeriert, dass wir irgendwie nicht gut und nicht genug sind, so wie wir sind. Nicht schlank genug, nicht fit genug, nicht schnell genug, nicht genug am Puls der Zeit, nicht innovativ genug, nicht klug genug, nicht modern genug, nicht Top-Performer genug, nicht informiert genug … und so weiter, und so weiter. Wer hat diesen Quatsch denn in die Welt gesetzt? Gebt mir seine Adresse, dann werd ich mit dem Kerl mal ein ernstes Wörtchen reden. 

Chaos und Potenzial

Das macht doch was mit uns. Wir setzen das alles unterbewusst auf die Liste mit Punkten, an denen wir arbeiten wollen, wo wir noch besser werden müssen, wo wir uns mehr anstrengen müssten, wo wir disziplinierter werden müssten, oder effektiver, oder beides. 
Dabei bleibt die Frage, wozu das ewige Abstreichen der Aufgabenliste, wenn nach Erledigung sofort eine neue Pflicht mit in die Liste aufgenommen wird? Vielleicht seid ihr auch schon mal wie ich darauf gekommen, dass das nie aufhört. Also wozu die ständige Eile?
Während dessen rauscht unser Leben an uns vorbei. Dann doch lieber mal etwas unerledigt lassen. Im Chaos steckt schließlich viel Potenzial für Kreativität, und das Genie beherrscht das Chaos – oder lässt es einfach liegen und geht spazieren.

Das Märchen vom ewigen Wachstum

Und wohin soll es führen, das ewige Wachstum? Meine Damen und Herren, lasst euch sagen, das Einzige, was immerwährend wächst, ist eine Krebszelle. Und die lebt ungesund. 
Jedes kleine Kind weiß, dass nichts ewig wächst. Man muss nur mal einen Blick in den Garten werfen. Es ist Herbst, die Blätter fangen an zu fallen, die Pflanzen ziehen sich zurück und werfen keine Früchte mehr ab, bis die Frühlingssonne sie irgendwann mal wieder aufweckt. Und was im Winter wächst, wächst langsam. Wann werden uns denn noch solche Phasen gegönnt? Und woher soll die Kraft zum Wachsen kommen? Und wieso fragen wir nach Erlaubnis?   

Genug ist genug

Genug! Mich packt der heilige Zorn und ich rufe auf zum stillen Widerstand gegen das ständige Mehr, das ewige Wachstum und die Schnelllebigkeit. Her mit meiner Sehnsucht nach Langsamkeit. Und die will ich in vollen Zügen zelebrieren und sie mir auf der Zunge zergehen lassen. Bis sie ganz süß wird wie Schokotorte. Machst du mit? 

Neue Strategie

  • Ich poche auf mein Recht, völlig ineffektiv den Nachmittag zu vertrödeln, nicht mein Allerbestes zu geben, sondern auf Sparflamme durch den Tag zu huschen, und meine Reserven für den letzten lauen Abend auf der Terrasse mit Freunden aufzusparen.
  • Ich nehme mir die Freiheit, zu lächeln, wenn mich jemand fragt „schaffst du die Deadline?“, und antworte „welche Deadline? Ist die nicht tot?“
  • Ich traue mich auszurufen, dass wir „human beings“ sind, und nicht „human doings“.
  • Ich lasse mich vom Kätzchen ablenken, und zum Spielen verführen.
  • Ich leihe mir den Hund meiner Nachbarin und schau ihm dabei zu, wie er seinen eigenen Schwanz jagt. Ziemlich ineffektiv. Aber sehr schön anzusehen.
  • Ich schmeiße mich in die Hängematte, und sehe den Wolken dabei zu, wie sie vorüberziehen. Irgendwoher muss die Kreativität ja herkommen, nach der die Welt ruft. Also lasse ich mich in Ruhe von der Muse küssen, und biete ihr ein belgisches Pralinchen an, das so schön im Mund schmilzt.  

Einfach jetzt

Heute einfach mal ich sein. Ineffektiv, müßiggängerisch, unorganisiert, disziplinlos. 
Einfach mal sein. Einmal nicht an später oder morgen denken. Einfach nur jetzt – jetzt! 

Tief durchatmen, innehalten, loslachen, auf alles fröhlich pfeifen, in kaltes Wasser springen, neugierig und Kindskopf sein, nach Lust und Laune. Einfach mal ich sein, so wie ich bin. Und denken, dass ich prima bin, wie ich bin, so ganz menschlich. Auch ohne KI. Oder wie Astrid Lindgren einmal sagte:

Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.

Astrid Lindgren
Foto von S Migaj / Unsplash
Categories: Lifestyle & Psyche
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